Veranstaltungshinweis: Am 4. Mai stellt sich Jens Rusch in der Podiumsdiskussion "MEET THE ARTIST" im Dithmarscher Landesmuseum um 15 Uhr den Fragen der Gäste.
Als ich bei der Übergabe meiner Mappenwerke an das Dithmarscher Landesmuseum von einem der Schlüsselereignisse in meiner Lebensgeschichte erzählen durfte, entstand habituell ein Bild in meinem Kopf. Ich kenne das ein kurioses Leben lang: Entweder entlarven sich solche bildhaften Protokolle selbst als flüchtige Erscheinungen, die sich in irgendwelche noch näher zu definierende düstere Ecken verkriechen und irgendwann vom Lebens-Schlitten fallen, oder sie sind beharrlicher. Sie können sogar aufdringlich werden und zu einer Belastung mutieren, wenn man sie nicht herauslässt. Dafür gibt es dann nur ein einziges Ventil und das ist meine Leinwand.
Ich erzählte also, wie ich als einfacher dithmarscher „Volksschüler“ (so nannte man damals die Grundschüler noch), der seine kosmopolitischen Weihen in einer zweiklassigen (nicht zweitklassigen) Dorfschule in Katrepel bei Neufeld erhielt, im spanischen Altea mit einer fast aristokratischen Sonderform von intelektuellem Bildungsbürgertum konfrontiert wurde. Damit meine ich nicht das Schauerbild eines abgehobenen Salonmalers, sondern ein Sphäre höchster literarischer Ansprüche. Eine Welt, die nicht die meine sein konnte.
Mein Tornister war zwar nicht unbestückt, aber die Werkzeuge waren zu dürftig, um mich als Schüler im Hause Schlotter etablieren zu dürfen.
Im Alter von vierzehn Jahren hatte mir mein Großvater, der als Rentner aus der DDR auswandern durfte, von seinen Ersparnissen einen Fernkursus namens „Famous Artist Schools“ für die sagenhafte Summe von 1400.- DM geschenkt. Dafür erhielt man damals einen Gebrauchtwagen. Mein Tutor war Norman Rockwell, dessen Bedeutung mir erst ein Vierteljahrhundert nach seinem Tode gegenwärtig werden sollte. Dieser nahm sich meiner auf besonders persönliche Weise an, weil er meinte, seine Ratschläge, die über den eigentlichen Kursus hinausgingen, würden bei mir auf einen guten Nährboden fallen. Dazu gehörte der Rat, mir Personen und Modelle für anatomische Studien im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft zu rekrutieren. „Die fordern kein Honorar und sind meist ständig verfügbar“.
Viel mehr brachte ich aber nicht mit nach Altea.
Schlotter verstand es jedoch, in mir einen Bildungshunger zu entfachen, der mich zu einem Strandräuber machen sollte. Ich begann, Wissen zu stehlen. Die spanische Sprache brachte er mir durch die Poesie von Miguel Hernandez näher, ein äußerst empfindsamer Schriftsteller, der unter Franco zu Tode gefoltert wurde. Und damit verband er auch einen politischen Nachhilfeunterricht, der mir half, Demagogie und Faschismus zu verstehen. Künstler sind die Seismographen einer Gesellschaft – und das gewinnt heute gerade wieder massiv an Bedeutung.
Ich erzählte also im Landesmuseum von der Mammutaufgabe, die Literatur seines Alter Egos Arno Schmidt zu goutieren und zu verstehen. Ich lernte, dass sich hinter einem rätselhaften Konsonantengestöber eine dritte Erzählebene verbergen könne, die sich erst offenbart, wenn man einen Text „mental laut“ lesen könne. Ich lernte, Zettels Traum wie ein Rundgebilde zu lesen, wenn man die Seiten umschlägt und zu einer Säule formt. Ich lernte, dass die Typoscripte Arno Schmidts bereits konkrete Anweisungen für einen gewaltigen Bilderkosmos in sich bergen können, wenn man in der Lage sei, sich diesen zu erlesen.
Er lebte mir genau diese Sichtweise in seinen eigenen Bildern täglich vor. Schotter bearbeitete nahezu das gesamte Schmidtsche Spätwerk, mit einer einzigen Ausnahme: Seine „Schule der Atheisten“ rührte Schlotter als einziges Werk niemals an und ich habe lange gebraucht, weshalb das wohl so sein könne.
Meiner Ausbildung als Meisterschüler von 1979 bis 1982 folgte ein zermürbendes Zerwürfnis, das sich erst kurz vor seinem Tod zu einer tiefgreifenden Freundschaft verwandeln ließ. In der Zwischenzeit hatte ich das Privileg meines Lebensraums und meiner Herkunft verstanden. Ich lebte genau dort, wo Arno Schmidt die Topographie seiner Novellen-Comödie angesiedelt hatte. Selbst das familiäre Konstrukt der Familie Kolderup hatte er bei „Otto Babendiek“ von Gustav Frensen entlehnt. Klaus Groth wurde bei ihm zu Klaus Langelütje und unzählige Lokalitäten machten Dithmarschen zu einem Schauplatz der Weltliteratur. So jedenfalls ordnet Jan Phillip Reemtsma das Werk Arno Schmidts in einer SPIEGEL-Analyse ein. Und Schlotter hatte es mir subtil in den Schoß gelegt.
Meine intensive Auseinandersetzung trug also auch einen Funken von Anarchie in sich, denn ich war ja unabgesprochen in den intellektuellen Kosmos meines Überichs Eberhard Schlotter eingedrungen.
Ganz wie ich es von Norman Rockwell gelernt hatte, rekrutierte ich am Schauplatz der „Schule der Atheisten“ alle meine Darsteller, die damit zu wirklich authentischen Relikten wurden. Das empfand ich nicht nur als Tribut an Arno Schmidt, sondern auch an meine beiden Lehrer. Eine ehrlichere Reminiszenz war für mich schlicht nicht vorstellbar. In der Philosophie, insbesondere bei Platon, bezieht sich "Reminiszenz" sogar auf die Vorstellung, dass Lernen ein Wiedererinnern an Wissen ist, das die Seele vor der Geburt besaß.
Nach diesem Gespräch im Dithmarscher Landesmuseum trage ich nun also die hier geschilderte Szenerie mit mir herum und sie beginnt, mich zu belasten. Ich stellte mir, ganz wie ich es gewohnt wurde, Metaphern für die Berge von Sekundärliteratur vor, die ein Gemälde wie Säulen stützen werden. Und ich möchte die kolossale Belastung durch literarische Herausforderungen und deren Protagonisten an die Leinwand „abgeben“. Kunst hat immer auch therapeutische Aspekte.
Die Skizze für dieses Gemälde-Detail entstand 1991.
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